Bildung und Differenz in historischer Perspektive

Bildung und Differenz in historischer Perspektive

Organisatoren
Jahrestagung der Sektion Historische Bildungsforschung in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft an der Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.09.2013 - 21.09.2013
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Von
Morvarid Dehnavi, Allgemeine Erziehungswissenschaft, insbesondere Historische Bildungsforschung, Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg; Gerhard Kluchert, Institut für Erziehungswissenschaft, Abt. Historische Bildungsforschung, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Jahrestagung der Sektion Historische Bildungsforschung stand in diesem Jahr unter dem Thema „Bildung und Differenz in historischer Perspektive“ und fand an der Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg, statt. Anknüpfend an die aktuell in der Erziehungswissenschaft geführten Diskussionen zum Zusammenhang von Bildung und Differenz hatte diese Tagung das Ziel, den Beitrag der historischen Bildungsforschung zu dessen Verständnis zu verdeutlichen und gleichzeitig Forscherinnen und Forschern, die auf unterschiedlichen Teilgebieten an diesem Thema arbeiten, die Möglichkeit des Austausches zu geben. Vom 19. bis 21. September 2013 wurden in 39 Vorträgen, verteilt auf 14 Sektionen, Ergebnisse einschlägiger bildungshistorischer Untersuchungen vorgestellt und diskutiert.

Nach den Begrüßungsworten des Präsidenten der Helmut-Schmidt-Universität, des Dekans der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften und der Vorsitzenden der Sektion Historische Bildungsforschung, Eva Matthes, folgte der einführende Vortrag der Gastgeber CAROLA GROPPE (Hamburg) und GERHARD KLUCHERT (Flensburg). In ihrem Überblick zum Forschungsstand machten Groppe und Kluchert zum einen klar, dass zu jeder Differenzkategorie – Klasse, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Religion, Alter, Behinderung – eine Vielzahl bildungshistorischer Untersuchungen vorliege. Zugleich betonten sie aber auch, dass die Forschung ausgesprochen segmentiert sei und es kaum Beziehungen zwischen den an den verschiedenen Differenzkategorien orientierten Forschungssträngen gebe. Zudem stehe die Historische Bildungsforschung vor der Aufgabe, den spezifisch historischen Beitrag zum Thema zu verdeutlichen und Auskunft über langfristige Veränderungen und Entwicklungen im Zusammenhang von Bildung und Differenz zu geben. In beiderlei Hinsicht verspreche man sich von den Beiträgen und Diskussionen auf der Tagung neue Impulse.

Die folgenden beiden Plenumsvorträge entwickelten begriffsgeschichtliche und systematisch-konzeptionelle Perspektiven und Problemstellungen für das Tagungsthema. Der begriffsgeschichtliche Vortrag von RITA CASALE (Wuppertal) erläuterte das Verhältnis der Begriffe Bildung und Differenz in ihren jeweiligen philosophischen und geschichtlichen Horizonten und Beziehungen. Dabei stellte sie eine epistemologische Diskrepanz von Bildung und Differenz fest, die sie anhand der Entwicklung politischer Theorien und gesellschaftlicher Transformationen in den letzten vierzig Jahren erläuterte. Daran anschließend beschäftigte sich KATHARINA WALGENBACH (Wuppertal) in ihrem Vortrag mit der Frage nach Chancen und Herausforderungen einer Verschiebung des Fokus von Differenz auf Differenzen, dabei Bezug nehmend auf die Diskussionen um das Konzept der Intersektionalität. Beide Vorträge lieferten einen perspektivenreichen Auftakt und lösten Diskussionen um die Bedeutung begriffstheoretischer Klärungen von Bildung und Differenz und um die forschungspraktischen Möglichkeiten und Grenzen theoretischer Grundlagen und methodischer Konzepte aus.

Die weiteren Vorträge wurden im Rahmen teilweise parallel tagender Sektionen gehalten. Neben den Differenzkategorien von sozialer Herkunft, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Behinderung und Stadt/Land dienten dabei auch die Modi der Konstruktion von Differenz (pädagogische Theorien, pädagogische Praxen, Forschung, Gesellschaftspolitik) als Gliederungsprinzipien. In Sektion 2 nahmen drei Referenten und Referentinnen in diesem Zusammenhang Utopien und Theorien zu Bildung und Differenz in den Blick. HANS-ULRICH GRUNDER (Basel) widmete sich Gesellschaftsutopien aus dem 16. bis 19. Jahrhundert und versuchte die Bedeutung von (individueller, sozialer, kultureller etc.) Differenz in der jeweiligen Konzeption von Bildung und Erziehung aufzuzeigen. Er kam dabei zu dem Schluss, dass keine historisch übergreifenden Gemeinsamkeiten in den analysierten Utopien nachzuweisen seien, in den einzelnen Utopien jedoch die gesellschaftlichen Transformationen des Umgangs mit Differenz sichtbar gemacht werden könnten. KATJA PETERSEN (Hamburg) beschäftigte sich mit dem von Karl Philipp Moritz herausgegebenen „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ (1783-1793). In ihrer Analyse konnte sie zeigen, dass das Magazin eine Aufklärungspädagogik ohne normative Vorgaben zu ständisch legitimierten Differenzen repräsentierte, gleichwohl aber danach fragte, aufgrund welcher sozialen und kulturellen Bedingungen der Mensch geworden sei, was er ist. REBEKKA HORLACHER (Zürich) betrachtete in ihrem Vortrag das Spannungsverhältnis zwischen pädagogischem Ideal und pädagogischer Praxis Pestalozzis in seinem Erziehungsinstitut in Yverdon-les-Bains. Anhand von Briefen Pestalozzis und seiner Lehrer an Eltern von Schülern wies sie nach, dass sich trotz Pestalozzis egalitärer Konzepte Konstruktionen von Differenz bezüglich sozialer Herkunft, Geschlecht oder Nationalität in der Praxis des Instituts durchsetzten.

Die Referentinnen und Referenten der Sektion 4 widmeten sich der Konstruktion von Differenz in pädagogischen Praxen. SABINE REH und JOACHIM SCHOLZ (Berlin/Wuppertal) stellten pädagogische und schulorganisatorische Debatten über das höhere und niedere Schulwesen in der Perspektive der Etablierung des differenzierenden Dispositivs ‚Leistung‘ in der Schule des 19. Jahrhunderts vor. Auf wie unterschiedliche Weise das Leistungsprinzip die Gruppierung von Schüler/innen organisieren konnte, wiesen sie exemplarisch an zwei Schulen nach. LUCIEN CRIBLEZ und KARIN MANZ (Zürich) zeigten anhand von Stundentafeln aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die im Rahmen einer Reform für die Sekundarstufe I im Kanton Zürich entwickelt worden waren, die Konstruktion einer doppelten Differenz, die sich in geschlechter- und leistungsdifferentem Unterricht niederschlug. Diesen Befund deuteten sie vor dem Hintergrund bildungspolitischer und sozialpolitischer Entwicklungen im 20. Jahrhundert. SUSANNE TIMM (Hamburg) widmete sich in ihrem Vortrag den Differenzierungspraktiken von Lehrern in der Unterrichtspraxis der DDR, die sie exemplarisch anhand von dokumentarisch interpretierten Unterrichtsmitschnitten analysierte.

In den aufgrund kurzfristiger Absagen zusammengelegten Sektionen 12 und 14 ging es um die Konstruktion von Leitdifferenzen bzw. um die Differenzkonstruktion als Sozialtechnologie. JULIA KURIG (Hamburg) ging in ihrem Vortrag auf die Differenzierung zwischen Mensch und Maschine und deren Bedeutung für bildungstheoretische Diskurse zwischen den 1920er- und 1960er-Jahren ein. Dabei machte sie das dieser Differenzkonstruktion inhärente, vor allem die Anthropologie und die Gesellschaftstheorie betreffende reflexive Potential deutlich, das sich in historisch jeweils spezifischer Weise im Verlauf des 20. Jahrhunderts entfaltete. ANDREA DE VINCENTI, NORBERT GRUBE und ANDREAS HOFFMANN-OCON (Zürich) fragten in ihrem Vortrag nach sozialtechnologischen Volkserziehungsvorstellungen und entsprechenden Argumentationen von Akteuren verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und suchten mittels einer Rezeptionsanalyse deren Einfluss auf die pädagogische Praxis zu ermitteln. VERA MOSER (Berlin) widmete sich in ihrem Vortrag der Frage nach der Konstruktion des Hilfsschulkindes und deren Bedeutung für die Entstehung und Verbreitung von damit befassten Institutionen. Dabei stellte sie heraus, dass diese Konstruktion symbolische Funktionen in der Regulation des Sozialen, insbesondere der historischen ‚sozialen Frage‘, besaß und dass die Hilfsschulen zugleich prototypisch die Entwicklung des modernen Förder- und Sonderschulsystems einleiteten.

Die Vorträge der ersten Sektion beschäftigten sich mit dem Verhältnis von Bildung und Differenz in Spätmittelalter und Früher Neuzeit und verdeutlichten besonders die epochale Breite des Tagungsthemas. Der Historiker GERRIT DEUTSCHLÄNDER (Hamburg) interpretierte, am Beispiel des Herrschergeschlechts der Luxemburger, die an den Nachwuchs herangetragenen Bildungsideale und die höfische Erziehung einerseits als soziale und kulturelle Differenz erzeugende Erziehung zu Adel und Stand und zugleich als Transformation geistlicher Bildungs- und Erziehungsideale. Die Kunsthistorikerin DANICA BRENNER (Trier) arbeitete am Beispiel der Malerzünfte die Institutionalisierung von ständischer Differenz sowie die spezifischen zünftischen Mechanismen der Exklusion und Inklusion heraus. TOBIAS SCHMIDT (Siegen), ebenfalls Historiker, fragte in seinem Vortrag nach den Bildungschancen von Waisenkindern, die in der frühen Neuzeit in einem Hospital in Siena lebten und erzogen wurden. Dabei konnte er aufzeigen, dass diese im Vergleich zu Kindern, die öffentliche Schulen besuchten, überwiegend Vorteile genossen, besonders wenn sie für den Besuch des nach Vorbild der katholischen Priesterseminare gestalteten elitären Ausbildungsseminars ausgewählt waren.

Die drei Vorträge der Sektion 3 behandelten das Thema Disability. Die Historiker ERIK BECK und ARNE TIMM (Dortmund) zeigten anhand von Quellen aus dem Mittelalter die Wahrnehmung von und den Umgang mit Menschen mit Behinderung im klösterlichen Umfeld. Die Bildungschancen als auch -grenzen für diese Gruppe zeichneten die Referenten an bekannten mittelalterlichen Persönlichkeiten mit Behinderung und unter Berücksichtigung von deren sozialer Herkunft nach. YLVA SÖDERFELDT (Aachen) ging in ihrem Vortrag der Frage nach, wie die historischen und aktuellen Debatten um ‚Happiness‘ in unterschiedlichen Disziplinen den pädagogischen Umgang mit Behinderungen und die Gründung von Initiativen, besonders für Blinde und Taubstumme, beeinflussen. Mit den Krüppelerziehungsheimen und der Kriegskrüppelfürsorge im frühen 20. Jahrhundert beschäftigte sich der letzte Vortrag dieser Sektion von SVEN WERNER (Dresden). Der Referent arbeitete anhand von ausgewählten Quellen das Spannungsverhältnis in den Zielsetzungen zwischen Herkunftsfamilien, privaten Initiativen und den verbandlich organisierten Institutionen heraus und zeigte auch, wie institutionelle ‚Tüchtigkeitskonzepte‘ mit Bagatellisierungen von Behinderung einhergingen.

Die Sektionen 5 und 7 enthielten Vorträge zum Themengebiet Soziale Differenz. KERRIN KLINGER (Jena) konnte in ihrem Vortrag anhand einer Rekonstruktion der Entwicklungen des Weimarer Schulwesens im frühen 19. Jahrhundert auf bildungspolitischer Ebene Differenzierungsbestrebungen nach ständischem Vorbild nachweisen, die in der Entwicklung unterschiedlicher mathematischer Anforderungsprofile der Schulformen zum Ausdruck kamen. ALEXANDER GRIEBEL (Lüneburg) stellte sein Dissertationsprojekt vor, in dem er nach einem Zusammenhang zwischen den Bildungsintentionen von Schülern und den in bildungshistorischen Studien herausgearbeiteten Wachstums- und Stagnationsphasen in der Bildungsbeteiligung an höheren Schulen fragt. Als Quellenbasis dienen ihm dabei Autobiografien von Schülern aus der Zeit zwischen 1845 und 1945. Thema des Vortrags von JAKOB BENECKE (Augsburg) waren soziale Ungleichheitsstrukturen in der Hitler-Jugend. In erster Linie ging es ihm in diesem Zusammenhang um den Nachweis, dass sich die Differenzierungspraktiken in der NS-Organisation mit Hilfe des Figurationskonzepts von Norbert Elias angemessener erfassen lassen als mit den systemtheoretischen Kategorien Niklas Luhmanns. INGRID MIETHE (Gießen) stellte ein noch in den Anfängen stehendes Projekt vor, das sich der Frage nach der Transformation der in der Sowjetunion entwickelten Arbeiterfakultäten (Rabfak) bei ihrer Übernahme in den Warschauer Pakt-Staaten, aber auch in Staaten Asiens, Lateinamerikas und Afrikas in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg widmet. Der Vergleich der entsprechenden Institutionen wird am Beispiel der vier Länder DDR, Kuba, Mosambik und Vietnam vorgenommen. REGINA SOREMSKI (Gießen) stellte in ihren Vortrag Ergebnisse einer Untersuchung zu Bildungsaufstiegen in Ost- und Westdeutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor. Mittels der biografischen Rekonstruktion von Bildungsaufstiegen und einer Analyse von politischen Gelegenheitsstrukturen gelangte sie zu einer Typologie von Chancenstrukturen, die in spezifischen historischen Konstellationen Bildungsaufstiegen und der Verringerung sozialer Ungleichheit im Bildungswesen förderlich sind.

Die Vorträge der Sektion 6 beschäftigten sich mit theoretischen und methodologischen Fragen zur Erforschung von Differenz. HEIKE DIERCKX (Gießen) stellte in ihrem Vortrag, im Rahmen des Konzepts der Intersektionalität, ein Verfahren vor, über das sie die Strukturmächtigkeit von Differenzkategorien sowohl empirisch zu ermitteln als auch theoretisch zu unterscheiden versucht. Am Beispiel einer Fallrekonstruktion, in der Diskriminierungserfahrungen und ihre Überwindung in den 1960er- und 1970er-Jahren in der Bundesrepublik herausgearbeitet wurden, stellte sie erste Ergebnisse ihrer Untersuchung vor. TORBEN KNEISLER und AXEL NATH (Lüneburg) gaben einen Einblick in ihre theoretischen Überlegungen zur Analyse und Systematisierung von Prozessen der Vertikalisierung und Horizontalisierung von Differenzen. Unter Berücksichtigung unterschiedlicher Analyseebenen meinten sie dabei im Ganzen einen Trend zur Horizontalisierung feststellen zu können. JÜRGEN BUDDE und GEORG RIßLER (Flensburg) nahmen in ihrem Vortrag eine Re-Lektüre von zentralen ethnographischen Studien aus verschiedenen Epochen zur Schulforschung vor, um ihren Gehalt für das Thema Bildung und Differenz herauszuarbeiten. Dabei verwiesen sie insbesondere auf Grenzen bisheriger Methoden der ethnographischen Forschung und zeigten die Notwendigkeit ihrer historischen Kontextualisierung auf.

Die Sektionen 8 und 10 beschäftigten sich mit dem Thema Differenz und Geschlecht. WALBURGA HOFF (Erfurt) widmete sich in ihrem Vortrag der Entwicklung der Sozialen Arbeit als Disziplin und verwies auf eine notwendige Differenzierung zwischen der Disziplinentwicklung und der Konstitution von Professionen. Sie betrifft besonders die Geschlechterebene, denn den Frauen war lange Zeit der Zugang zur Wissenschaft versperrt, jedoch nicht der Zugang zur Sozialarbeit als Praxis. An einem Fallbeispiel aus den frühen 1930er-Jahren zeigte sie, wie Frauen mit der Entwicklung einer spezifischen Arbeitsweise Zugang zu wissenschaftlicher Betätigung fanden. Dem Thema Professions- und Disziplingeschichte der Sozialen Arbeit, jedoch mit Blick auf die USA zwischen 1889 und 1928, widmete sich auch DAYANA LAU (Halle-Wittenberg). In ihrem Vortrag beleuchtete sie die Forschungstraditionen und die frühen Ansätze Sozialer Arbeit und den konflikthaften Prozess der Abspaltung der Sozialen Arbeit von der Soziologie, den sie als Ausdifferenzierungsprozess einer professionellen Handlungspraxis und einer wissenschaftlichen Disziplin interpretierte. EDITH GLASER (Kassel) untersuchte in ihrem Beitrag die Thematisierung von Geschlechterdifferenz in Bildungsreformprozessen. Ihr Beitrag basierte auf einer Analyse der drei großen Reformpläne der frühen Bundesrepublik unter Einbezug der vorbereitenden Diskussionen in den zuständigen Ausschüssen sowie der zeitgenössischen Kritiken verschiedener Interessensgruppen. AMI KOBOYASHI (Berlin) behandelte in ihrem Vortrag die Entwicklung des Turnunterrichts sowie der Schuluniformen und Kleiderordnungen zwischen 1900 und 1945 in Japan. Anhand von Quellentexten arbeitete sie die Bedeutung dieser Entwicklungen für die Konstruktion neuer Geschlechterrollen heraus. MORVARID DEHNAVI (Hamburg) ging der Frage nach, inwiefern die Erfahrung von Differenz der Geschlechter zu einem Motiv politischen Handelns werden kann. Mittels der Rekonstruktion biografischer Erfahrungen, die sie nach der Dokumentarischen Methode typisierte, zeichnete sie die politische Sozialisation von Aktivistinnen der Neuen Frauenbewegung nach. Dabei konnte sie zeigen, dass die Motive der Frauen politisch aktiv zu werden, vielfältig waren und dass ihr geschlechtspolitisches Handeln Ergebnis einer politischen Sozialisation war, die schon in der Kindheit begann. CHRISTINE OTT (Würzburg) wollte in ihrem Beitrag nachweisen, dass eine stärkere Berücksichtigung linguistischer Methoden für die bildungshistorische Erforschung des Differenz-Themas gewinnbringend sei. Auf der Grundlage einer Schulbuchstudie, bei der 80 Rechenhefte und Mathematikbücher zwischen 1870 und 2010 analysiert wurden, beschrieb sie die Entwicklung von Geschlechterstereotypen und die Darstellung von Geschlechterrollen. In ihrem Vortrag verdeutlichte sie exemplarisch am Konstrukt Geschlecht, wie soziokulturelle Wissensbestände und Normvorstellungen sprachlich verankert sind und decodiert werden können.

Die Sektion 9 der Tagung beschäftigte sich mit Fragen zu Bildungsreform und Differenz. In diesem Rahmen gab zunächst ADRIAN SCHMIDTKE (Göttingen) Einblick in seine diskursanalytische Rekonstruktion der Vorschuldebatte in den 1960er- und 1970er-Jahren. Mittels der Analyse zeitgenössischer Texte aus Bildungspolitik, Wissenschaft und Praxis konnte er plausibel darlegen, dass innerhalb des Reformdiskurses soziale Benachteiligungen zwar schon thematisiert wurden, die Erklärungsbemühungen jedoch noch sehr rudimentär blieben. Der Historiker WILFRIED RUDLOFF (Mainz/Kassel) ging in seinem Vortrag der Thematisierung ungleicher Bildungschancen in den wissenschaftlichen und politischen Diskursen Großbritanniens und Deutschlands in den späten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nach. Dabei konnte er zeigen, dass trotz zunehmender Internationalisierung deutliche Unterschiede in der Begründung und Bewertung ungleicher Bildungschancen festzustellen sind, die auch das unterschiedliche Schicksal der Gesamtschulbemühungen in Großbritannien und der Bundesrepublik verständlich machen.

Die beiden Vorträge der Sektion 11 beschäftigten sich mit der Frage der Stadt-Land-Differenz. MANUEL KRETZ (Bern) verfolgte in seinem Beitrag die Konstruktion eines Stadt-Land-Topos im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in der Schweiz. Neben der Frage, wie Bildungsdifferenz in den unterschiedlichen geographischen Räumen diskutiert und konstruiert wurde, interessierte ihn dabei auch die Frage nach realen Leistungsdifferenzen, die er anhand der Ergebnisse zeitgenössischer Rekrutenprüfungen zu beantworten suchte. Auch WILFRIED GÖTTLICHER (Wien) befasste sich mit der Stadt-Land-Differenz, indem er der Frage nachging, wie die Differenz zwischen städtischen und ländlichen Lebenswelten im Österreich der Nachkriegszeit konstruiert und für bildungspolitische Zwecke instrumentalisiert wurde. Während in den 1950er-Jahren Bedeutung und Eigenwert des Landes und der kleinen Dorfschule, so der Vortragende, noch einmal die politischen Lager übergreifend stark akzentuiert wurden, gewann im folgenden Jahrzehnt eine pragmatische Argumentation, der es um bessere Bildungschancen für die Landbevölkerung ging, die Oberhand.

Die Beträge der Sektion 13 widmeten sich dem Thema ethnische Differenz. CHRISTINA ALARCÓN (Berlin) ging in ihrem Beitrag der Frage der Konstruktion und Dekonstruktion von ethnischer Differenz im Rahmen des spannungsreichen chilenischen Nationalstaatsbildungsprozesses und am Beispiel von Erziehungsprogrammen zweier Schulen für Kinder der indigenen Mapuche-Bevölkerung nach. In ihrer Analyse der Institutionen nahm sie verschiedene Dimensionen von Differenz in den Blick und wies zudem Unterschiede in der Konstruktion und im Umgang mit ethnischer Differenz zwischen verschiedenen Akteuren (Staat, kirchlicher Orden) nach. Auch TOSHIKO ITO (Mie) setzte sich in ihrem Vortrag, nun bezogen auf das japanische Kaiserreich, mit der Rolle von Bildung und Schule im Rahmen der Assimilierung ethnischer Minderheiten auseinander. Ihre Analyse der in den 1930er-Jahren speziell mit Blick auf die Bevölkerung von Okinawa initiierten Kampagne gegen den Dialekt machte deutlich, dass sowohl Anhänger wie national-romantische Gegner dieser Kampagne in assimilatorischen Denkmustern verfangen waren. ELKE KLEINAU (Köln) stellte in ihrem Vortrag schließlich das Design eines Forschungsprojekts zu Bildungs- und Differenzerfahrungen von ehemaligen Besatzungskindern sowie deren Kindern und Enkelkindern vor. Dabei ist angestrebt, in einem intergenerationalen Vergleich die sich verändernden Bildungsbedingungen von und Diskussionen über so genannte Mischlingskinder, die erfahrenen Inklusions- und Exklusionsprozesse sowie die subjektive Konstruktion von Differenz zu untersuchen.

Die insgesamt 39 Vorträge belegten einerseits eindrucksvoll die Beteiligung der historischen Bildungsforschung an der erziehungswissenschaftlichen Erforschung des Themas „Bildung und Differenz“. Sie dokumentierten ferner ihre Vielfalt und Breite sowohl hinsichtlich der thematischen Zugänge und der epochalen und regionalen Schwerpunkte als auch der theoretischen und methodischen Ansätze. In der Abschlussdiskussion wurde andererseits aber auch eine kritische Bilanz gezogen. So wurde moniert, dass die Diskrepanz zwischen den in den Eingangsvorträgen formulierten theoretischen und methodischen Ansprüchen und deren Realisierung in den Einzelbeiträgen beträchtlich gewesen sei. Auch sei die bereits geleistete erziehungswissenschaftliche und bildungshistorische Forschung mit ihren Ergebnissen vielfach nicht hinlänglich berücksichtigt worden. Die Untersuchung mehrere Differenzkategorien in ihrer Verschränkung, so ist ergänzend zu resümieren, fand sich ebenso nur in wenigen Beiträgen wie die Herausarbeitung größerer historischer Zusammenhänge und Entwicklungen. Hat die Tagung so die ihr zugedachte Funktion eines Forums für die Begegnung und den Austausch zwischen den auf unterschiedlichen Teilgebieten historisch am Thema „Bildung und Differenz“ Arbeitenden zweifellos erfüllt, so hat sie zugleich doch auch deutlich gemacht, wieviel es für die Historische Bildungsforschung auf diesem Feld noch zu tun gibt.

Konferenzübersicht:

Carola Groppe (Hamburg) / Gerhard Kluchert (Flensburg): Bildung und Differenz in historischer Perspektive. Einführung in das Thema

Rita Casale (Wuppertal): Der begriffsgeschichtliche Unterschied von Bildung und Differenz

Katharina Walgenbach (Wuppertal): Von Differenz zu Differenzen. Chancen und Herausforderungen einer Komplexitätssteigerung in der historischen Bildungsforschung

Gerrit Deutschländer (Hamburg): Gebildet oder nur höfisch erzogen? Die Herrscher aus dem Geschlecht der Luxenburger im Spätmittelalter

Danica Brenner (Trier): „… kein leer knecht aufnemenn, er sei dann eelich geborn“. Differenz und Exklusion in der zunftgebundenen Ausbildung in Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit

Tobias Schmidt (Siegen): „Glück im Unglück“ – Waisenkinder im frühneuzeitlichen Bildungssystem Sienas

Hans-Ulrich Grunder (Basel): Alle gleich oder jede(r) anders? Erziehungs- und Bildungsideen in utopischen Konzepten

Katja Petersen (Hamburg): Zu Konstruktion und Umgang mit Differenz in biographischen Bildungsprozessen – Karl Philipp Moritz’ Erfahrungsseelenheilkunde

Rebekka Horlacher (Zürich): Die Idee der allgemeinen Menschenbildung als Negierung von Differenz

Erik Beck/Arne Timm (Dortmund): ‚Halbmensch’ oder ‚erfahrenster Lehrer der christlichen Religion? Überlegungen zu Bildungschancen und -grenzen von Menschen mit Behinderung im Mittelalter

Ylva Söderfeldt (Aachen): Disability, Education and the Happinazation of the World: A Historical Study of the Role Played by Happiness in the Emergence of Educational Initiatives for the Blind and Deaf

Sven Werner (Dresden): Der pädagogische Umgang mit Differenz am Beispiel der Krüppelvorsorge

Sabine Reh (Berlin)/Joachim Scholz (Wuppertal): Auseinandersetzungen um die Organisation von Schulklassen. Die Etablierung des „Leistungsprinzips“ als pädagogische Ordnung in der modernen Schule im 19. Jahrhundert

Lucien Criblez/Karin Manz (Zürich): „Unterricht auf werktätiger Grundlage“ oder die Konstruktion einer doppelten Differenz: geschlechter- und leistungsdifferenzierter Unterricht auf der Sekundarstufe I

Susanne Timm (Hamburg): Differenzierungspraktiken im Lehrerhandeln in der DDR. Exemplarische Rekonstruktion handlungsleitender Orientierungen

Kerrin Klinger (Jena): Mathematische Bildungsprofile und soziale Differenzierung. Die Entwicklung der Weimarer Schulen von 1770er bis in die 1830er Jahre

Alexander Griebel (Lüneburg): Zur Deutung von Differenzen in Kommunikationsnetzwerken zur Bildungsentscheidung

Heike Dierckx (Gießen): Intersektionalitätsforschung: Die Strukturmächtigkeit von Kategorien

Torben Kneisler/Axel Nath (Lüneburg): Zur Balance zwischen der Vertikalisierung und Horizontalisierung von Bildungs- und sozialen Differenzen – theoretische und empirische Erörterungen zum historischen Prozess

Jürgen Budde/Georg Rißler (Flensburg): Erziehungswissenschaftliche Ethnographie und Differenz – Transformationslinien, Potentiale, Risiken

Jakob Benecke (Augsburg): Soziale Ungleichheit in Programmatik, Praxis und subjektiven Erleben der Hitler-Jugend

Ingrid Miethe (Gießen): Historische und kulturelle Transformation einer Bildungsinstitution. Arbeiterfakultäten in der Sowjetunion, der DDR, Kuba, Mosambik und Vietnam

Regina Soremski (Gießen): Bildung und soziale Ungleichheit. Historische und biografische Rekonstruktionen von Bildungsaufstiegen in Ost- und Westdeutschland

Walburga Hoff (Erfurt): Disziplin, Profession und Geschlecht. Zur Entstehung Sozialer Arbeit als Wissenschaft

Dayana Lau (Halle-Wittenberg): Zur Differenzierung von Professionen und Disziplinen am Beispiel der frühen sozialen Arbeit in den USA

Edith Glaser (Kassel): Geschlechterdifferenzen und Bildungsreformen

Adrian Schmidtke (Göttingen): ‚Das benachteiligte Kind’ im Reformdiskurs der 1960er und 1970er Jahre

Wilfried Rudloff (Mainz/Kassel): Ungleiche Bildungschancen: Bildungsforschung, öffentlicher Diskurs und Bildungsreform in Deutschland und England in den Jahren des Bildungsbooms

Ami Kobayashi (Berlin): Turnunterricht in Japan (1900-1945): konstruierte neue Geschlechterrolle und eliminierte alte Geschlechterdifferenz

Morvarid Dehnavi (Hamburg): Die Erfahrung von Geschlechterdifferenz als Motiv politischen Handelns? Rekonstruktion von politischen Orientierungen am Beispiel von Aktivistinnen der Neuen Frauenbewegung im Kontext der Studentenbewegung

Christine Ott (Würzburg): Geschlechterstereotypen auf der Spur. Ein Plädoyer für mehr Linguistik in der Bildungsforschung

Manuel Kretz (Bern): Bildungskluft zwischen Zentrum und Peripherie. Kulturpolitische Konstruktion eines Stadt-Land-Topos sowie reale Leistungsdifferenzen im ausgehenden 19. Jahrhundert

Wilfried Göttlicher (Wien): Die „Eigenständigkeit der Landschule“. Ländliche und städtische Lebenswelt als Differenz in der österreichischen Schulreform-Debatte in den langen 1950er Jahren

Julia Kurig (Hamburg): Die Differenz zwischen Mensch und Maschine als Inspiration bildungstheoretischer Diskussion im 20. Jahrhundert

Christina Alarcón (Berlin): Ethnische Differenz als erziehungspolitisches Problem – Schulen des Staates und Indianerschulen des bayerischen Kapuzinerordens zur Erziehung der Mapuche in Chile (1883-1930)

Toshiko Ito (Mie): Dialekt und Hochsprache im schulischen Raum des japanischen Kaiserreichs: Assimilationspolitik und Diskurs über Differenz der Sprachen

Elke Kleinau (Köln): Bildungs- und Differenzerfahrungen über drei Generationen

Andre de Vincenti/Norbert Grube/Andreas Hoffmann-Ocon (Zürich): Sozialtechnologische Gemeinschafts- und Differenzkonstruktionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Rezeption von und Transformation durch Lehrpersonen und Schule

Vera Moser (Berlin): Die Konstruktion des Hilfsschulkindes – ein modernes Symbol zur Regulation des Sozialen?


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